Die Muslimbruderschaft und ihr Einfluss
Der Zusammenbruch des Osmanischen Reichs führte zu einer neuen religiösen Bewegung, die von der vom Ägypter Hassan el-Banna gegründeten Muslimbruderschaft verkörpert wurde. Diese Bewegung, die von der Arabischen Republik Ägypten als terroristische Gruppe eingestuft wird, kam 2012 im Zuge des Arabischen Frühlings an die Macht. Die Türkei unterstützte die von Mohamed Morsi vertretene Bewegung. Die Muslimbruderschaft, deren Ziel die Wiederherstellung eines Kalifats ist, ist eine einflussreiche Bewegung in der muslimischen Welt. Die fragwürdigen Beziehungen der Türkei zu den Muslimbrüdern stiften Verwirrung und erschweren das Verständnis der Beziehungen der Türkei zu ihren Nachbarn und Verbündeten.
Die Anfänge einer neuen religiösen Ära
Die bis dahin vom Osmanischen Reich dominierte muslimische Welt erlebte zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen religiösen Bruch. Nach der Abschaffung des osmanischen Kalifats durch Mustafa Kemal Atatürk im Jahr 1924 entstand eine Bewegung, die sich gegen den “westlichen Säkularismus und die blinde Nachahmung des europäischen Modells” richtete.
Dieses Ziel verfolgte Hassan el-Banna 1928, als er die Muslimbruderschaft in Kairo gründete. In den ersten 20 Jahren erlebte die Bewegung ein starkes Wachstum.1 Während der Spannungen zwischen Palästinensern und Israelis Mitte der 40er Jahre gewann die Bewegung an Einfluss. 1945 gründete Saïd Ramadan2 einen Zweig arabischer Kämpfer in Palästina, um gegen den Zionismus zu kämpfen. Demzufolge nahmen zahlreiche Kämpfer am arabisch-israelischen Krieg von 1948 teil. Dieser historische Schritt gab der Bewegung ein grundlegendes Ziel.
Politische und religiöse Ziele
Die Muslimbruderschaft begann nach dem Fall des Osmanischen Reiches eine religiöse, moralische, soziale und politische Ideologie zu verbreiten. Das Ziel war die Wiederherstellung des Kalifats in der muslimischen Welt, im Gegensatz zu den säkularen und fortschrittlichen Werten, die sich in den Ländern mit muslimischer Mehrheit entwickelten. Konkret wendet sich die Bewegung gegen den französisch-britischen Einfluss im Nahen Osten. Die Gründung eines jüdischen Staates, die die Muslimbruderschaft ablehnt, ist ebenfalls ein von der Bewegung genutztes Kampfthema. Das Konzept des Dschihad wurde somit in Opposition zum Panarabismus und zu westlichen Einflüssen wieder aufgegriffen. Es bestehen jedoch weiterhin Rivalitäten zwischen den islamistischen Bewegungen. Die Muslimbruderschaft steht in direkter Konkurrenz zur saudi-arabischen Wahhabiten-Bewegung, mit der sie beispielsweise eine ähnliche Doktrin über die strikte Anwendung der Scharia teilt.
Verbreitung der Doktrin der Muslimbruderschaft
Im Jahr 1948 markieren die Ereignisse in Ägypten einen Wendepunkt in der Entwicklung der Bewegung. Die Bruderschaft wurde von Premierminister Mahmoud an-Nokrashi Pasha verboten. Als Vergeltungsmaßnahme wurde er von den radikalsten Mitgliedern der Bewegung ermordet. Im Jahr 1949 wurde der Gründer der Muslimbruderschaft Hassan al-Banna auf Befehl von König Farouk ermordet. Nach ihrer Auflösung im Jahr 1954 wurde die Bewegung von Nassers neuer Republik unterdrückt. Viele Anhänger der Bewegung flohen nach diesen Ereignissen aus Ägypten. Viele Mitglieder der Bruderschaft zogen in nahe gelegene Länder wie Palästina, Syrien, Irak und Nordjemen, aber auch nach Europa, in Länder wie Großbritannien, Deutschland und Frankreich, und besuchten europäische Universitäten. Europa war zunächst eine Zufluchtszone, bot den Mitgliedern der Organisation aber mit der Gründung islamischer Hilfsorganisationen ab den 1960er Jahren einen dauerhaften Halt. Viele Al-Qaida-Terroristen, wie Ayman al-Zawahiri, der nach dem Tod Bin Ladens Chef der Terrororganisation wurde, begannen ihre Karriere bei der Muslimbruderschaft. Heute ist die Bruderschaft eine heterogene, facettenreiche Organisation mit globaler Ausdehnung, die von Ägypten, Saudi-Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Syrien und Russland als terroristische Organisation eingestuft wird.
Eine Inspirationsquelle in der Türkei
Das Ende des osmanischen Kalifats mit der Gründung der neuen Republik von Mustafa Kemal Atatürk war der Auslöser für die Entstehung der Muslimbruderschaft in Ägypten. Erst Anfang der 1970er Jahren entstand in der Türkei eine islamistische Bewegung, Millî Görüş. Diese von Necmettin Erbakan gegründete Bewegung war direkt von der Muslimbruderschaft inspiriert. Da die mit der Bewegung verbundenen politischen Parteien verboten und aufgelöst wurden, hat die AKP ihren Ursprung in der Millî Görüş.
Ihr Gründer, Recep Tayyip Erdoğan, begann seine politische Karriere in den 1970er Jahren in der Jugendorganisation der von Necmettin Erbakan gegründeten Partei der Nationalen Rettung (Milli Selamet Partisi). Die Ziele der beiden Bewegungen sind identisch und ergänzen sich.
Die unklaren Absichten von Recep Tayyip Erdoğan
Die Muslimbruderschaft und die islamisch-konservative Bewegung von Recep Tayyip Erdoğan sind zwar keine Rivalen, doch der türkische President hat unklare Absichten mit der Bruderschaft. Nach dem Sturz von Mohamed Morsi3 prangerte Erdoğan ständig die “Tyrannei” des neuen Präsidenten Sissi an. Er beschuldigte die ägyptische Führung, direkt für den Tod von Mohamed Morsi im Gefängnis verantwortlich zu sein. Viele führende ägyptische Mitglieder der Muslimbruderschaft haben in der Türkei Zuflucht gefunden. Dank logistischer Unterstützung und Medienplattformen ermöglicht die Türkei den ägyptischen Aktivisten, ihren Kampf in völliger Sicherheit fortzusetzen. Doch weil Erdoğan heute diplomatisch isoliert ist, versucht er, die Beziehungen zu Feinden wie Syrien, den Golfmonarchien und Ägypten zu erneuern. Im Jahr 2021 zögerte Ankara nicht, Sendern wie El-Sharq TV (im Besitz der Muslimbruderschaft), Watan TV und Mekameleen mit Sitz in der Türkei die Finanzierung zu entziehen, selbst wenn dies bedeutete, sich von der Muslimbruderschaft abzutrennen. Diese Sender wurden sofort angewiesen, keine politischen Programme mehr auszustrahlen, die Ägypten kritisieren. Dies galt insbesondere für El-Sharq und Mekameleen TV, die wichtige Propagandainstrumente für die Bruderschaft sind.
“Erdogan let go of his mentor Erbakan, then his wrestling allies Abdullah Gul and Ahmed Davutoglu. The third to be let go is Ali Babacan, the architect of the economic renaissance. What is strange about him dropping the Muslim Brotherhood and shutting down their TV channels? Hamas may be the next target. only God knows”
1 200 000 Aktivisten in 1943.
2 Schwiegersohn von Hassan al-Banna.
3 Ägyptischer Präsident vom 30. Juni 2012 bis 3. Juli 2013, der der Muslimbruderschaft angehört.